Willkommen bei Tetraton
Unser Erstling ist weiterhin in den Streamingdiensten zu haben. Viel Spaß mit dem anhören der Stücke, einzeln oder als Komplettdownload
Duos, Trios und Quartette - im Laufe der Musikgeschichte hat sich die Zusammensetzung von Musikgruppen immer wieder verändert. Das Quartett aber gehört seit den klassischen Streichquartetten zu den beliebtesten Formationen auch im Jazz und im Pop. Manche Quartetts nannten sich nur so, zum Beispiel das Dinwiddie Colored Quartet, das aus acht Musikern bestand. Andere, zum Beispiel das Quartett von Teddy Stauffer, wurden nach kurzer Zeit zu Big Bands aufgestockt. Während der Hinweis im Band-Namen auf die Formationsgröße im Jazz und auch im Soul noch weit verbreitet war, etwa beim Dave Brubeck Quartet oder bei den The Four Tops, wurde in Rock & Pop auf die Benennung der Quartettformation meistens verzichtet, obwohl diese Konfiguration dort geradezu zum Standard wurde.
Die 2017 in Hamburg gegründete Band Tetraton hingegen bekennt sich schon mit ihrem Namen zum Vier-Gefühl. Tetra, das griechische Wort für Vier, taucht eigentlich in vielen Zusammenhängen auf, etwa beim modernen Vierkampf (Tetrathlon) oder im Theater (Tetralogie steht für eine Folge von vier zusammengehörenden künstlerischen Werken), nicht aber in den Namen der vielen vierköpfigen Bands.
Die Betonung auf der Vier bei Tetraton spielt auf das musikalische Prinzip an: traditionelle Aufgaben wie die Komposition werden hier arbeitsteilig verwirklicht. Es gibt zuerst eine Melodie und das harmonische Grundgerüst eines Stückes, aber am hörbaren Ergebnis haben das gemeinsame Arrangement und die Improvisation einen bedeutenden Anteil. Tonmaterial und Klangfolge entstehen im Zusammenspiel Mehrerer. Komposition, kreatives Arrangement und Aufführung sind ein kollektiver, nie ganz in seine Einzelheiten aufschlüsselbarer Prozess. Es ist der Versuch, Bruchstücke der Erfahrung der Beteiligten zu einem Ganzen zusammenzufügen.
Es ist nicht zuletzt die langjährige musikalische Erfahrung aller Mitwirkenden in anderen Bandprojekten. Tillman Straßburger
bringt seine Kunstfertigkeiten als Stückeschreiber, Sänger und Gitarrist ein. Auch dass die Farbgebung von Petra Memmlers Stimme den Sound der Tetraton-Songs bereichert, geht auf die
Entwicklung dieser Fertigkeit in anderen Bands zurück. Ebenso bei Peetsche Peemöller, Songwriter, Bassist und auch eine weitere Gesangsstimme bei Tetraton: sein musikalische Know-how ist
mit all der Erfahrung verbunden, die man braucht, um zu verstehen, wie Klang semantische Bedeutungen übermittelt. Zuständig bei Tetraton für Tasteninstrumente und die Arrangements der
Schlagzeugspuren ist der Tondichter und Pianist Thomas Behrendt, zu dessen musikalischem Hintergrund unter anderem seine Big Band-Erfahrung gehört, einem musikalischen Genre also, wo die
Rhythmusgruppe viel Raum für Improvisationen lässt.
Eine Frau und drei Männer, die zusammen drei Gesangsstimmen, Gitarre, Bass, E-Piano und ein virtuelles Schlagzeug aufbieten – das ist das Line Up von
Tetraton, der Band, die mit „Zartbitter“ nun ihr erstes Album präsentieren.
Sieben Songs und drei Instrumentals sind auf „Zartbitter“ zu hören. Mid-tempo-Titel zwischen 110 und 120 Beats per Minute
(BPM) wechseln sich mit langsamen, zumeist rockjazzigen Songs zwischen 60 und 80 BPM ab. Während in den einzelnen Stücken Synkopierungen, Taktverschiebungen und andere Dissonanzen
eher selten sind, erzeugt der Tempo-Wechsel zwischen den Stücken beim Hören des Albums eine Spannung, von der man erwartet, dass sie beim nächsten Song wieder aufgelöst wird. Willkürlich ist das
nicht: Tatsächlich lassen sich Tempo und Klang dem oft expressiven Stimmungsgehalt der einzelnen Musikstücke gut zuordnen.
„ZWEIFEL“
Der erste Song heißt „Zweifel“. Er ist kurz und kommt schnell zur Sache. Nach einem absteigenden Intro-Motiv und glockenhellen Keyboard-Tupfern setzt die
warme Stimme von Tillman Straßburger ein und nach zwei Sätzen folgt schon die eingängige Hookline „Es gab nur diese Nacht“, die den Wiedererkennungswert des Stückes ausmacht. Nach zwei
weiteren Textzeilen, zwei Gitarrensoli und der Wiederholung des prägnanten Eingangs-Riffs ist der Song schon vorbei und bleibt doch im Gedächtnis.
Wie viele der nächsten Stücke zeigen, hat Straßburger ein besonderes Talent beim Singen solcher Hooklines, die zum zivilisierten Mitsummen einladen. Diese Songs haben einen „Ohrwurmeffekt“, aber
ohne jede Penetranz.
„ESPRESSO MIT DIR“
Bei „Espresso“, dem zweiten Song , wird das Tempo radikal halbiert. Jetzt werden starke Gemütsbewegungen und Leidenschaften liedhaft thematisiert. Instrumenteneinsatz, Tonlagen,
Tonarten und die Dynamik sollen diese Stimmung unterstützen. „Dein Duft hängt noch in der Luft“, „Was hab ich falsch gemacht“, „Am Ende bleibt jeder doch für sich“ - was sich nach
großem einlullendem und gefälligen Drama anhört, ist dann doch etwas anderes: Wie so oft im Rock & Pop geht es hier radikal subjektiv zu: Ich-Perspektive, das Leiden an der Welt und an
misslungenen Lieben. Aber das hier ist weder Pennälerlyrik (wie bei den Bands der „Hamburger Schule“) noch „Dein ist mein ganzes Herz“-Kitsch wie bei Heinz Rudolf Kunze. Wie der
Albumtitel „Zartbitter“ schon andeutet, wird hier recht unbeschwert geklagt. Das Unglück von dem die Rede ist, ist eigentlich schon vorbei. Es sind Rückblicke auf Misslungenes, aber alles ist
bereits verarbeitet und die Welt hat sich schon weitergedreht. So ist die ganze Platte: Momente der Wehmut werden von der Musik weggetragen, nicht verstärkt.
„MINUS 110“
„Minus Hundertzehn“, das dritte Tonstück, ist wieder doppelt so schnell wie das vorherige. Ein fließender und treibender polyphonischer, rockjazziger Song mit einem „postoptimistischen“
Text („ich dachte wir wären ein Paar“) . Musikalische Mehrstimmigkeit im besten Sinn: mehrstimmig der Gesang, helle Gitarren- und Piano-Melodien, angedeutete Tempo- und Rhythmuswechsel.
Thematisch wieder ein Aufbruch nach dem Einbruch. Mitsummen ist auch hier möglich.
FUNNY THREE
Die musikalische und emotionale Bandbreite dieses Album wird nicht zuletzt durch drei Instrumentals geprägt. Das erste heißt „Funny Three“ - ein Dancefloor-Walzer
im mittleren Tempo und eine Komposition im 3/4-Takt. Beginnend mit einem groovigen Basslauf, dessen Thema vom Piano aufgegriffen und vom unbeschwerten Gitarrenspiel beantwortet wird und getrieben
von abwechslungsreichen Percussions, gibt es hier gewisse Verwandtschaften zum Jitterbug Waltz, besonders zu „Someday My Prince Will Come“ von Miles Davis. Tatsächlich ist das Stück
aber treibender und leichter. Es kann jederzeit in einem Club oder Jazzkeller die Tanzflächen füllen.
„MÄDCHEN AUS PAPIER“
Dass „Funny Three“ von „Mädchen aus Papier“ abgelöst wird, gehört zu den Überraschungen, die für dies Album charakteristisch sind. Denn „Mädchen aus Papier“ ist ein Song, der in die Musikbox des „Silbersack“ gehört, einer legendären Kneipe auf St. Pauli, wo die Gäste zu später Stunde mit feiner Ironie so genannte Ohrwurmlieder hören, besonders gern, wenn sie einen Hamburg-Bezug haben und mit einem gewissen Hamburger Akzent gesungen werden.
Tatsächlich ist „Mädchen aus Papier“, ein 124 BPM schneller Song mit Latin-Feeling, auch eine „Hamburgensie“, also unverwechselbar auf Hamburg bezogen. Ein Mann, der gerade Feierabend hat, steht am bekannten U-Bahn-Knoten Lattenkamp, um zu seinem Wohnort Norderstedt am Hamburger Stadtrand zu fahren. Das „Mädchen aus Papier“ ist eine Schönheit, die ihn von einem Werbeplakat anschaut. Diese Geschichte wird im Stil der Rockballade erzählt. Das Keyboard kommentiert das Gesagte in den kleinen Pausen zwischen den Verszeilen. Nach wenigen Umdrehungen folgt ein erster Refrain, aber der Höhepunkt ist dem titelgebenden Slogan vorbehalten. Im letzten Drittel wird der Song durch den Gesang von Petra Memmler nochmals aktualisiert, um dann im Duett zu enden.
„ALADADI“
Der sechste Titel, Aladadi“, fährt das Tempo wieder runter. Es ist ein ruhiges instrumentales Gitarren- und Piano-Stück, bildlos-meditativ wirkender Klang, harmonisch, melodisch und rhythmisch an eine Musette erinnernd, wie in der französischen Kammermusik, wo die Gitarren-Musette als Bestandteil der Suite oder Sonate gebräuchlich war.
„SOME OTHER MAN“
Auch die Aufnahme dieses englischsprachigen Songs unterstreicht die Vielseitigkeit des Albums. „Some other Man“ ist ein ruhiges, zweistimmiges Bluesrockstück mit klassischen Rockgitarrensoli im John Mayall-Stil. Einfach geschwungene Melodiebögen und gelassen dahinrollende Beats prägen die Komposition. Die Grundstimmung ist von einem balladenhaften Gesang und emotionaler Direktheit geprägt; dabei reagiert das Gesetz der sinnverstärkenden Wiederholung. So funktioniert auch gute Straßenfestmusik.
„FUNKY FOUR“
Auch dieses dritte Instrumentalstück überrascht. Sehr ruhiger, clubtauglicher Jazzrock , der durch seine Langsamkeit eine pathetische Note bekommt und wegen seiner perfekt
ausbalancierten Dramatik auch als Filmmusik vorstellbar ist. Der Keyboard-Sound erinnert von Ferne an eine Hammond-Orgel, aber es ist nur ein angedeutetes Zitat, das wiederum andere
Assoziationen hervorruft. Zum Beispiel Erinnerungen an den Keyboarder Bob James von Fourplay (das Vier-Gefühl in der Variante „Vierfach“), dem Erfinder des Smooth Jazz. Auf dem dritten
Fourplay-Album „Elixir“ gibt es Stücke, die mit dem Tetraton-Instrumental durchaus vergleichbar sind. Bemerkenswert bleibt, dass auf „Zartbitter“ Musikstücke, die wegen griffigen Hooklines und
markanten Riffs einen hohen Wiedererkennungswert haben und komplexere Kompositionen gleichberechtigt nebeneinander stehen.
„SONNTAG“
„Ich schaue mal aus dem Fenster“ heißt es in den ersten Zeilen dieser Rockballade. Es ist kein Lied über Selbstzweifel und bietet auch sonst keine T-Shirt-tauglichen Parolen. Es ist der
grüblerische Song eines Spätaufstehers mit der schönen Zeile „Google weiß nicht wo ich bin“. Der reflexiv-alltagsphilosophische Gestus, den man sonst zum Beispiel von Element of Crime
kennt, funktioniert über den Zusammenklang von Musik und Stimme.
In Rock & Pop wird überwiegend die “natürliche” Artikulation der verwendeten Sprache benutzt. Tillman
Straßburgers Stimme, die dieses Album wesentlich prägt, ist mehr als eine gesprochene Zwischenbemerkung. Er hat zudem diesen Hamburger nasalen Tonfall, den er aber keineswegs absichtlich
herausstellt. Er singt sympathisch unprätentiös ohne Verschleppen oder eigensinniges Vorziehen und ohne überzählige Silben, die Rhythmus und Taktmaß stören. Sein Pathos hat auch nichts zu tun hat
mit dem Schnodder-Ton von Udo Lindenberg und Jan Delay.
Einige Gesangs-Sequenzen auf diesem Album erinnern zufällig an Déjà Vu von Spliff, 1982 gesungen von Herwig Mitteregger. Solche Parallelen unterstreichen nur, dass die
modulationsfähige stimmliche Vielfalt und die vokalen Improvisation Emotionen in größerer Bandbreite darstellen können als die Musik das kann. Sogar der Text selbst kann nicht so viel ausdrücken
wie die Stimme, die ihn singt. Letztlich ist die Rolle des Gesangs in der populären Musik dieselbe wie die des Instrumentalsolisten im Jazz.
„ABSPANN“
Ein poetischer Text über Rollenspiele in der Liebe. Hübsche Nichtigkeiten im lässigen, balladesken Vortragsstil. Die Musik ist ein vielfältiges und groovendes Spiel mit treibenden Beats und einem tieffrequenten Bass. Der Song wirkt besonders dicht durch verschiedene Arten von Verkürzung im Spielen von Tönen, wobei die Melodiestimme unmerklich abweicht, während die Begleitung streng im Takt bleibt. Melodien sind das Element eines Songs, an das sich das Publikum am nachhaltigsten erinnert. Die Melodien gehören zu den großen Stärken dieses Albums.
(GJ)
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